Naturnahe und unverbaute Fliessgewässer sind in der Schweiz zu einer Rarität geworden. Gleichzeitig sind sie für die Biodiversität aber sehr wertvoll. Deshalb werden sie metaphorisch auch als Gewässerperlen bezeichnet. Das Label «Gewässerperle PLUS» bietet nun ein Instrument, um den Schutz dieser Landschaften auf freiwilliger Basis sicherzustellen. Nebst Schutz- und Aufwertungsmassnahmen setzt es auch auf Sensibilisierung, Information und Forschung.
Das Val Chamuera gehört zu den unberührtesten Tälern der Schweiz. Hier befinden sich ein Arvenwald mit 700 Jahren alten Bäumen und eines der wichtigsten Bartgeier-Brutgebiete. Und die Ova Chamuera durchfliesst das Tal: der Bergbach ist eine unverbaute Gewässerperle. Wenn es nach der Gemeinde La Punt Chamues-ch geht, soll das auch so bleiben. Und die Idee eines Kleinwasserkraftwerks im unteren Bereich des Tals soll ebenfalls bleiben, was sie ist: nur eine Idee. Die Gemeinde hat ihren Bach freiwillig als «Gewässerperle PLUS» zertifizieren lassen und das Label 2021 erhalten.
Damit ist es die zweite Gemeinde nach der Nachbargemeinde Bever. Diese hatte zuvor das Label für den Beverin erhalten. Während der Gewässer- und der Landschaftsschutz eine nationale und kantonale Aufgabe sind, erhalten mit dem Label lokale Trägerschaften die Möglichkeit, sich mit einem freiwilligen und informellen Schutzinstrument für den Erhalt ihrer Gewässer einzusetzen. Initiiert wurde das Label vom WWF zusammen mit diversen Partnerorganisationen. Ziel des Projektes ist es, mit möglichst vielen Akteuren ins Gespräch zu kommen und sie für den Erhalt von naturnahen Fliessgewässern zu sensibilisieren. Der FLS unterstützt das Projekt, weil Gewässer eine hohe Bedeutung für Landschaft, Biodiversität und Erholung haben.
Natürliche Gewässerlandschaften sind in der Schweiz zu einer Seltenheit geworden. 22 Prozent der Schweizer Flüsse sind begradigt. Im Mittelland sind es gar über 50 Prozent. Auenlandschaften sind weitgehend verschwunden und viele Wassertiere und -pflanzen stehen auf der Roten Liste. Trotzdem sind viele ökologisch und landschaftlich wertvolle Gewässer nicht gesetzlich geschützt. Im Rahmen der Zertifizierung sollen solche Gewässer als Teil von naturnahen Kulturlandschaften aufgewertet und wiederhergestellt werden.
Um die Zertifizierung zu erhalten, muss der entsprechende Flussabschnitt 13 gewässerökologische Kriterien erfüllen, die eine naturnahe Gewässerlandschaft sicherstellen. Diese betreffen beispielsweise Verbauungen des Gewässers oder die standortgerechte Ufervegetation. Diese Kriterien werden durch den wissenschaftlichen Beirat des Projektes überprüft. Zudem wird unter Einbezug der lokalen und regionalen Akteure ein Entwicklungsplan erarbeitet. Dieser definiert, wie das Gewässer in den fünf Jahren nach der Zertifizierung weiter verbessert werden soll. Er beinhaltet sowohl den zertifizierten Gewässerabschnitt als auch das weitere Einzugsgebiet. Damit wird nicht nur der zertifizierte Abschnitt geschützt, sondern die gesamte Gewässerlandschaft aufgewertet. Im Falle der Ova Chamuera und des Beverin sind deren Entwicklungspläne zurzeit in Umsetzung. So wurde beispielsweise am Beverin beim einzigen baulichen Hindernis auf der zertifizierten Strecke ein Umgehungsgerinne gebaut.
«Das Projekt erlaubt es, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Ziele auf innovative Art und Weise zusammenzuführen und so einen Nutzen für verschiedenste Interessengruppen zu generieren, beispielsweise im Rahmen eines naturnahen Tourismus.» So erklärt Walter Wagner, Senior Advisor beim WWF und Präsident des Vereins Gewässerperlen, die Vorzüge des Projektes. Damit kann breite Unterstützung für eine Zertifizierung erreicht werden und es ergeben sich alternative Möglichkeiten zur finanziellen Inwertsetzung durch Wasserkraft.
Im vergangenen Jahr hat der Verein aus den bisherigen Pilotzertifizierungen gelernt und seine Prozesse optimiert. Nun sind verschiedene Gemeinden für eine Zertifizierung im Gespräch, darunter auch mehrere in der Westschweiz. Künftig will der Verein auch proaktiv Gewässerabschnitte für das Label nominieren und nicht mehr nur auf die Bewerbungen potenzieller Labelanwärter setzen.
Fotos: WWF Schweiz: Luca Zanetti, Antonia Eisenhut
15.6.2023